Erfahrungsbericht: Aufwachsen bei einer psychisch kranken Mutter

Ich habe erlebt, wie eine eine psychi­sche Erkran­kung eine Familie zerstö­ren kann — wenn keiner hilft. Denn an der Erkran­kung leidet nicht nur der psychisch kranke Mensch selbst, sondern auch seine Angehö­ri­gen und vor allem seine Kinder. 

Seit ich mit 19 (vor 11 Jahren) den Kontakt zur Familie abgebro­chen und nach Trier gegan­gen bin, habe ich inten­siv daran gearbei­tet, das Gesche­he­ne überhaupt erstmal (in Worte) fassen zu können und dann zu verste­hen, was es mit mir gemacht hat und wie es mich noch heute prägt. Und ganz aktuell bin ich dabei, endlich mit der Macht dieser Vergan­gen­heit über mich ab- und hoffent­lich Frieden zu schlie­ßen. Inner­halb dieses wichti­gen Prozes­ses habe ich beschlos­sen, hier öffent­lich über meine Erfah­run­gen zu berich­ten, um so das unaus­sprech­li­che und fast schon unwirk­li­che Erleben ein Stück weiter in der Reali­tät zu verankern.

Es könnte sein, dass einige Stellen meines Berichts sehr unlogisch oder gar wirr kingen. Genau diese Verwir­rung machte aber eben die Krank­heit meiner Mutter aus.

Ich möchte mit meinem Bericht aufzei­gen, wie belas­tend die Situa­ti­on von Kindern psychisch kranker Eltern sein kann, wenn sie keine Hilfe erhal­ten und allein der Krank­heit ihrer Eltern ausge­setzt sind. Ich möchte ihr Erleben versteh- und erleb­bar machen und auch anderen betrof­fe­nen Kindern Mut zuspre­chen: es gibt einen Ausweg und man kann trotz­dem seinen Weg gehen!

Aber hier nun meine Geschichte:

Ich bin als Einzel­kind bei meiner allein­er­zie­hen­den Mutter in Ostdeutsch­land aufge­wach­sen. Mein Vater hat ca. ein halbes Jahr nach meiner Geburt 1982 die Familie wieder verlas­sen. Er verschwand komplett von der Bildflä­che, Unter­halt hat er nie bezahlt. Bis vor wenigen Wochen habe ich nie Kontakt mit ihm gehabt. Erzählt hat meine Mutter mir über die Zeit damals nie, deshalb kann ich leider nur vermu­ten, was damals passiert ist. Ich habe aber vor kurzem von einem Bekann­ten der Familie erfah­ren, dass meine Mutter auf ihn bereits damals einen depres­si­ven Eindruck gemacht hat, ebenso wie ihr Vater (mein Großvater). 

Nach der Schei­dung stand meine Mutter dann ganz allein mit mir da. Dabei hatte sie anschei­nend sehr große Hoffnun­gen und Erwar­tun­gen an die Ehe und die neue eigene Familie geknüpft. Mein Vater und ihr Kind sollten sie endlich glück­lich machen. Aber es ging alles schief: erstmal wurde das Kind nicht der gewünsch­te Junge (das hat sie mir häufig gesagt) und dann ließ ihr Mann sie einfach sitzen. Was blieb war nur noch ein von ihr abhän­gi­ges kleines Wesen, für das sie ihre Bedürf­nis­se hinten anstel­len musste. Und damit war sie wohl komplett überfor­dert. Sie nahm meine natür­li­chen Bedürf­nis­se als Baby als belas­ten­de Ansprü­che wahr, denen sie nicht gewach­sen war. Es half auch nicht, dass ich sie wohl sehr an meinen Vater erinner­te, was sie kaum ertra­gen konnte. Hinzu kommt, das nach meinen wenigen Infor­ma­tio­nen die Familie ihr auch kaum gehol­fen hat. Wie damals in der DDR üblich, gab sie mich dann aber zum Glück schon früh (ich schät­ze so Ende des ersten Lebens­jah­res) in die Krippe. Das nur zu den Rahmen­be­din­gun­gen. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen.

Ich habe allge­mein nur sehr wenige Bilder zu meiner Kindheit im Kopf. Meine frühes­ten Erinne­run­gen begin­nen als ca. 5jährige. Ich sehe mich im Kinder­gar­ten. Von Weitem erken­ne ich meine Mutter, die gekom­men ist um mich abzuho­len. Noch heute sind mir meine Gefüh­le in dieser Situa­ti­on sehr präsent: sobald ich sie erbli­cke, fühle ich mich plötz­lich total extrem angespannt, vor Angst wie erstarrt. Und dann steht sie vor mir, und schaut mich an mit einem abwer­ten­den Blick, den ich so fürch­te weil er aufge­la­den ist mit jeder Menge vernich­ten­der Botschaf­ten. Erst heute bin ich mir über deren ganzes Ausmaß so richtig im Klaren.

Mit ihrem Blick durch­leuch­te­te sie mich inner­halb von Sekun­den und es war sicher, dass sie wie immer etwas finden würde, was an mir falsch war. Das konnte alles sein. So rügte sie mich beispiels­wei­se dafür, dass mein Lachen hässlich ausse­he oder dumm klinge. Allge­mein waren ihr alle Zeichen von Leben­dig­keit zu viel – ich kann mich nicht erinnern, dass ich in ihrer Gegen­wart mal unbeküm­mert oder überhaupt Kind sein durfte. 

Ich liste hier stich­punkt­ar­tig die Grund­bot­schaf­ten meiner Mutter an mich auf (eigent­lich sind es eher Botschaf­ten über sie selbst, aber sie kamen als Anschul­di­gun­gen bei mir an). So trat sie eigent­lich von Beginn meiner Erinne­rung an mit mir in Kontakt. Als ich kleiner war, waren die Botschaf­ten eher non-verbal, später sprach sie viele dieser Dinge auch wörtlich so aus. Andere habe ich in der Thera­pie mühsam heraus­ge­ar­bei­tet, sie stehen eher für ihre Grund­hal­tung mir und dem Leben gegen­über:

 

  • Du siehst deinem Vater so ähnlich und daran will ich nicht erinnert werden. Ich finde dich so hässlich/dumm/anstrengend/…, warum kannst du denn nicht ein hübscheres/schlaueres/einfacheres/… Kind sein?! Dich kann man einfach nicht lieben.“ Ich habe sie prinzi­pi­ell als enttäuscht über mich erlebt. Es ging soweit, dass sie mich als absto­ßend und ekelhaft bezeichnete.

 

  • Ich empfin­de dich als enorme Belas­tung. Ich bin total erschöpft. Du kannst nun wirklich nicht von mir verlan­gen, mich auch noch mit so einem anstren­gen­den Kind wie dir ausein­an­der­zu­set­zen. Ständig machst du mir nur Ärger.“ Ärger bedeu­te­te für sie z.B. schon das oben erwähn­te zu laute oder hässli­che Lachen.

 

  • Achtung, die nächs­te Botschaft ist sehr abstrus: „Merkst du nicht, wie die Leute schon alle auf uns schau­en. Die haben doch längst gemerkt, was für ein schlech­tes Kind ich habe. Die sind ohnehin nur darauf aus, meine Schwä­chen aufzu­de­cken und mich bloßzu­stel­len. Wenn das passiert ist alles aus, dann kann ich nicht mehr weiter­le­ben. Und du bist dabei ein unkon­trol­lier­tes Risiko. Wenn du schon nicht normal sein kannst, dann benimm dich gefäl­ligst wenigs­tens unauf­fäl­lig, sag bloß nichts und ziehe ja keine wie auch immer gearte­te Aufmerk­sam­keit auf dich. Wir können nur darauf hoffen, dass die Leute uns wenigs­tens überse­hen und uns in Ruhe lassen.“ Man könnte meinen es hande­le sich um Belang­lo­sig­kei­ten, aber für meine Mutter war das bitte­rer Ernst. Und damit als kleines Kind auch für mich. Diese Botschaft deutet schon deutlich auf ihre psychi­sche Erkran­kung hin. Zu dieser komme komme ich gleich noch.

 

  • Ich bin mit meinem Leben überfor­dert, ich halte das einfach nicht mehr aus. Ich habe doch ein Kind bekom­men, damit ich glück­lich bin. Damit bist du doch dafür verant­wort­lich, dass es mir gut geht. Mach doch endlich mal was!“ und im gleichen Atemzug: „Du kannst ja doch nichts. Alles was du machst kann nur falsch sein, weil du schon grund­sätz­lich falsch bist.“ Das ist defini­tiv die Nummer 1 der Botschaf­ten. Die beiden Aussa­gen schlie­ßen sich ja eigent­lich gegen­sei­tig aus. Damit hatte ich einen Grund­kon­flikt, der total unlös­bar war. Ich bin darüber mehr und mehr verzwei­felt, weil er ja gar keinen Sinn ergibt und weil es daraus keinen Ausweg gibt. Daran leide ich noch heute. 

Ich wusste dass mich all das erwar­te­te, als ich meine Mutter im Kinder­gar­ten schon von Weitem sah. Daher mein oben beschrie­be­ner Dauer­zu­stand aus Angst und Anspan­nung. In diesem ver-rückten Rahmen hatte ich kaum Raum, mich selbst zu entde­cken und mich normal zu entwi­ckeln. Es erschreckt mich heute zutiefst, dass ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, mal mal mit meiner Mutter Spaß gehabt zu haben. Statt­des­sen herrsch­te eine Atmosphä­re der Furcht und Traurig­keit und ich stand ständig unter ernor­mem Stress. Denn wie oben erwähnt hatte ich gelernt, dass jeden Moment „alles aus“ sein konnte. Was genau das sein sollte wusste ich auch nicht, eben das Schlimmst­mög­li­che. Ich spürte einen ständi­gen Druck, etwas leisten zu müssen, das aber eigent­lich gar nicht zu können.

Das war eigent­lich viel zu viel.

Ich hatte aber leider sehr früh und sehr gut gelernt, nach außen hin bloß nicht aufzu­fal­len und um jeden Preis alles gut zu machen. Denn jede Art von Auffal­len wurde von meiner Mutter sofort bestraft. So vermied ich es immer mehr, irgend­et­was von mir zu zeigen. Und zwar weder ihr noch anderen, da ich ja keine andere Reakti­on kannte. 

Auf die beiden Themen „Nur nicht auffal­len“ und „Falsch sein“ werde ich im Folgen­den immer wieder einge­hen. Sie waren die Haupt­sor­gen, um die bei meiner Mutter alles kreis­te und verant­wort­lich für die meisten Proble­me bei uns Zuhause. 

Ich konnte mir gar nicht vorstel­len, dass es so etwas gibt wie „positiv auffal­len“. So arbei­te­te ich z.B. immer daran, gut in der Schule zu sein. Aber nicht weil ich erwar­te­te, dass meine Mutter stolz auf mich sein würde. Das kannte ich gar nicht. Es ging nur darum, ihr keinen Ärger zu machen. Als ich dann am Ende der Grund­schu­le vor der Klasse als eine der besten Schüle­rin­nen geehrt wurde, löste diese Art von „Aufmerk­sam­keit-auf-mich-ziehen“ panische Angst in mir aus. Ich wollte die Situa­ti­on einfach nur vermeiden.

Wie gesagt, ich war gut darin, unauf­fäl­lig zu sein. Zu gut aus heuti­ger Sicht. Denn so wurde niemand auf meine innere Not aufmerk­sam. Meine Lehrer beschrie­ben mich als braves, vielleicht etwas stilles Kind. Viel mehr gab es nicht zu sagen. Und da meine Mutter ebenfalls lange Zeit erfolg­reich ihre ganze Kraft in das Aufrecht­erhal­ten des „schönen Scheins“ steck­te, kam mir niemand zu Hilfe. 

Ich würde sagen bis zur Puber­tät war mir auch selbst nicht bewusst, dass etwas nicht stimm­te. Aber dann ab dem 11. Lebens­jahr spürte ich schon sehr deutlich, dass etwas grund­le­gend schief lief. 

Nur hatte ich keine Worte dafür, dazu war das alles zu konfus und unfass­bar. Und durch ihre dauern­den demüti­gen­den Botschaf­ten hatte meine Mutter mir schon früh die Stimme genom­men. Alles was ich sagte war ja falsch, da hatte ich irgend­wann aufge­ge­ben, zu sprechen. Ich war verstummt und zog mich auch immer mehr in mich zurück. 

Ich war zutiefst verun­si­chert und verwirrt. Das was mich jahre­lang verwirr­te als etwas, das grund­le­gend schief lief, ohne dabei greif­bar zu sein, das war die psychi­sche Erkran­kung meiner Mutter. 

Diese entfal­te­te sich vollends, als ich im Teenager-Alter war. Ich habe zwar keine chrono­lo­gi­sche Erinne­rung an die trauma­ti­schen Ereig­nis­se während dieser Zeit, aber ich weiß von konkre­ten Diagno­sen, die ich teilwei­se heimlich von Rezep­ten ablas. Denn erklärt hat mir damals niemand, was los war. 

Was weiß ich über die äußere Situa­ti­on? Meine Mutter war also ab 1983 mit mir allein, und hatte auch keinen neuen Partner. Sie hatte Arbeit und trug dabei einiger­ma­ßen erfolg­reich ihre Schön­wet­ter-Maske. Grund­sätz­li­che Proble­me waren damals schon da, aber nach dem Fall der Mauer wurde es dann offen­sicht­lich und richtig schlimm. Bis dahin war sie wohl auch schon depres­siv. Aber zu DDR-Zeiten musste sie sich — das würde ich in diesem Fall wirklich so formu­lie­ren — einfach nur in die autori­tä­re Staats­struk­tur einpas­sen. Der Lebens­weg war für sie genau vorge­ge­ben. Heute fällt mir auf, wie gut die äußeren Bedin­gun­gen der DDR mit den inneren Überzeu­gun­gen meiner Mutter zusam­men­pass­ten: es galt, sich in die große gesichts­lo­se Masse des Volkes einzu­fü­gen, bloß keine eigene (= „abwei­chen­de“) Meinung zu haben. Und man konnte sich darauf verlas­sen, einen Arbeits­platz und eine Wohnung „zugeteilt“ zu bekom­men. Eine höhere Instanz sorgte schon für das eigene Überle­ben. Vielleicht war es auch so, dass diese Rahmen­be­din­gun­gen überhaupt erst zu den inneren Überzeu­gun­gen meiner Mutter geführt haben. Oder dass sie diese Prinzi­pi­en zumin­dest viel zu tief verin­ner­licht hatte (sie kannte ja Zeit ihres Lebens nichts anderes), anstel­le eines Selbst­be­wusst­seins, einer Ich-Stärke. Diese zu entwi­ckeln, dazu hatte sie wohl keine Gelegenheit. 

Jeden­falls müssen die Wende und die plötz­li­che neue Wirtschafts- und Gesell­schafts­ord­nung ein Riesen­schock für sie gewesen sein. Alles was ihr bis dahin Sicher­heit gegeben hatte, brach mit einem Mal komplett weg. Viele andere hatten damit ebenfalls zu kämpfen, nur hatten sie genug innere Ressour­cen, um einen Umgang damit zu finden. Meine Mutter aber kam mit ihrem Leben nicht mehr zurecht und es ging ihr zusehends schlech­ter. Ich denke, dass die Ereig­nis­se 1989/90 auch ein Teil der Erklä­rung sind, warum sich ihre schon immer vorhan­de­ne unter­schwel­li­ge Traurig­keit gepaart mit mangeln­dem Selbst­ver­trau­en und Überfor­de­rung sich zu einer ausge­wach­se­nen, chroni­schen psychi­schen Krise entwi­ckel­te, auf deren Höhepunkt sie für mehre­re Wochen in’s Kranken­haus verschwand und mich als 15jährige mit etwas Geld schließ­lich nicht nur emotio­nal sondern auch physisch mir selbst überließ. 

Ich habe leider nur noch bruch­stück­haf­te Erinne­run­gen, aber hier sind die Ereig­nis­se, die mir noch im Gedächt­nis sind, wenn auch nicht chrono­lo­gisch: 

 

  • Meine Mutter weinte sich über lange Zeit fast täglich in den Schlaf und sagte mir ständig, wie sie das alles einfach nicht mehr schaf­fen würde, und wie enttäuscht sie von mir sei, weil ich alles nur noch schlim­mer für sie machen würde.

 

  • Diese ständi­ge Rückmel­dung, so eine Enttäu­schung und Belas­tung zu sein, konnte ich irgend­wann einfach nicht mehr aushal­ten. Ich zog mich so tief in mich zurück, dass ich irgend­wann das Gefühl hatte, gar nicht mehr da zu sein. Im Alter von 12 Jahren brach ich den Kontakt zur restli­chen Familie ab, weil ich es nicht mehr etragen konnte, wie meine Mutter sich vor ihnen für mich schäm­te (das sagte sie mir auch oft). Die Bezie­hung meiner Mutter zu ihren Eltern war sehr unter­kühlt und meine Großmutter war auch immer sehr abwer­tend meiner Mutter und mir gegen­über. Jeden­falls melde­te sich nicht einmal ein Famili­en­mit­glied (es gab meine Großel­tern, eine Großtan­te und die Schwes­ter meiner Mutter mit ihrer Familie), um zu fragen ob bei mir alles in Ordnung war. Jahre­lang gab ich mir die Schuld für mein Allein­sein und übernahm die Einschät­zung meiner Mutter, dass ich ein unzumut­ba­res Problem­kind sei etc. Erst heute weiß ich, dass es nicht normal ist, dass eine Familie einfach wegschaut, wenn ein 12jähriges Kind sich plötz­lich so komplett isoliert. 

 

  • Meine Mutter bekam auf Arbeit immer mehr Proble­me (ursprüng­lich war sie techni­sche Zeich­ne­rin, arbei­te­te dann als Sachbe­ar­bei­te­rin im Kunden­dienst und lande­te schließ­lich an der Rezep­ti­on). Und am Ende verlor sie dann im Alter von 47 Jahren ihre Arbeit, weil sie dabei erwischt wurde, wie sie 70 DM aus der Kaffee­kas­se entwen­de­te. Das war ca. 1999/2000, als ich so 16/17 Jahre alt war. Ihre Chefin brach­te sie nach diesem Vorfall nach Hause, denn sie war wie ein kleines Kind und überhaupt nicht mehr ansprech­bar. Obwohl die Chefin doch sehen musste, dass bei uns alles schief lief, verab­schie­de­te sie sich ohne weiter nachzu­fra­gen einfach wieder. Ein Hilfs­an­ge­bot an mich gab es nicht. Meine Mutter fand danach nie wieder einen Job und wir hatten noch weniger Geld als ohnehin schon.

 

  • Meine Mutter sagte mir, sie wünsch­te sich ich wäre nie geboren und äußer­te auch häufig den Wunsch bzw. drohte sie mir, sie wolle sich umbrin­gen und mich mitneh­men.

 

  • Ich durfte irgend­wann nicht mehr an’s Telefon gehen, mit der Begrün­dung, dass wir abgehört würden. Oder ich wurde harsch angeblafft, wenn ich das Licht anmach­te in der Küche, wo sie mit ihrem Bier und ihrer Zigaret­te apathisch in’s Leere starr­te – auch hier ging es um Überwa­chung von draußen / erwischt werden…

 

  • Sie war schließ­lich irgend­wann auch in psych­ia­tri­scher Behand­lung und hatte folgen­de wechseln­de Diagno­sen: genera­li­sier­te Angst­stö­rung, Depres­si­on, sozia­le Phobie, manisch-depres­siv (= bipolar), Schizo­phre­nie. Sie war zwar wiege­sagt 6 Wochen statio­när in Behand­lung, machte aber dann nie eine Thera­pie. Statt­des­sen wurde sie über länge­re Zeit mit Zyprexa (einem Tranqui­li­zer) ruhig gestellt und nahm auch danach regel­mä­ßig Medika­men­te. Damit war das Problem für sie gelöst. Ihre Haltung mir gegen­über änder­te das aber nicht. Nach mir gefragt oder mit mir gespro­chen hat keiner der behan­deln­den Ärzte. Was genau sie hatte und wo die Ursachen liegen werde ich wohl nie erfahren.

 

Es war klar, dass da etwas ganz grund­le­gend nicht stimm­te. Sicher­lich war es damals noch eine andere Zeit und in den letzten 10–15 Jahren hat sich viel getan. Ich weiß nicht, ob es heute anders laufen würde, aber damals jeden­falls sprach keiner das Problem aus. Die Familie und die Nachbarn guckten weg. Ich suchte als Teenager mit letzter Kraft wieder und wieder das Gespräch mit meiner Mutter, da ich aber statt Antwor­ten nur Zurück­wei­sun­gen und Anschul­di­gun­gen bekam, entwi­ckel­te ich eine enorme Wut, ja einen Hass auf sie. Ich lehnte sie genau­so grund­le­gend ab, wie sie es mit mir tat. Jahre­lang gab es jeden Abend den gleichen Streit, in dem ich meine Mutter dazu bringen wollte, endlich anzuer­ken­nen, dass alles schief­läuft. Sie sollte endlich Verant­wor­tung überneh­men und etwas tun. Oft brach ich dann angesichts ihrer abwei­sen­den und verleug­nen­den Reakti­on aus Verzweif­lung in Tränen aus. Dafür wurde ich von ihr nur verächt­lich ausgelacht.

Irgend­wann wurde ich darüber selbst sehr depres­siv, hatte kaum Kontak­te bzw. brach Freund­schaf­ten zu Mitschü­lern ab, weil ich befürch­te­te, auch von ihnen als „falsch“ erkannt und „ausge­sto­ßen“ zu werden… Wir hatten auch keine anderen Kontak­te, so dass das meine einzi­ge Erfah­rung war. Ich konnte es mir gar nicht anders vorstel­len. Es gab keine Oma oder Tante oder nette Lehre­rin, die meine Not erkannt und mich aufge­fan­gen hätte.

So war meine Kindheit: Neben dem Rückzug in mich selbst (um nur nicht mehr diese belas­ten­den Gefüh­le spüren zu müssen), dem Verstum­men nach außen hin (aus tiefer Verun­si­che­rung) und der Aggres­si­on meiner Mutter gegen­über (aus Verzweif­lung und als letzte Kraft, die ich noch hatte) entwi­ckel­te ich irgend­wann die feste Überzeu­gung, dass ich besser dran wäre ohne andere Menschen in meinem Leben. Ich glaub­te wohl auch, ich hätte Anerken­nung oder gar Liebe von anderen nicht verdient

Ich bin überzeugt, dass diese Haltung für mich damals überle­bens­not­wen­dig war, um nicht im Kontakt mit meiner Mutter unter­zu­ge­hen. Es war meine einzi­ge Chance, um mich abzugren­zen. Auch wenn das bedeu­te­te, mich von allen anderen gleich mit loszu­sa­gen. Heute aller­dings ist diese Grund­über­zeu­gung natür­lich total hinder­lich und einfach sehr ungesund und ich kämpfe täglich damit, mich immer wieder auf’s Neue darüber hinwegzusetzen.

Ich war also total isoliert, lag irgend­wann das ganze Wochen­en­de nur noch im Bett und lebte nur dafür, die gefor­der­te Leistung in der Schule zu erbrin­gen. Das war neben der Wut auf meine Mutter alles was ich noch hatte. Ich musste das Abitur schaf­fen, um da raus zu kommen. Aus heuti­ger Sicht hätte ich viel lieber für mich selbst gelernt, aber so tat ich das alles unter enormer Überlas­tung und habe kaum etwas von dem Wissen für mich mitneh­men können…Was man unter Angst und Stress lernt, behält man kaum.

Aber ich habe es tatsäch­lich geschafft. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie ich das gemacht habe, und auch noch gut. Und trotz der andau­ern­den Beschwer­de meiner Mutter, ich würde ihr über 16 hinaus unver­schäm­ter­wei­se immer noch auf der Tasche liegen, bei gleich­zei­ti­ger Aussa­ge, dass heutzu­ta­ge ohne Abitur gar nichts mehr geht…Noch so ein Widerspruch.

Bei der Zeugnis­über­ga­be, in einem großen Festsaal, wo alle Eltern sich stolz versam­melt hatten um ihre Schütz­lin­ge zu beklat­schen, brach ich dann aber fast zusam­men. Ich hatte meiner Mutter im Vorfeld aggres­siv zu verste­hen gegeben, dass ich sie bei diesem wichti­gen Ereig­nis nicht dabei­ha­ben wollte (was sie sang- und klang­los akzep­tier­te). Lieber wollte ich an diesem Tag allein sein als sie (wie damals im Kinder­gar­ten) mit ihrem abwer­ten­den Blick zwischen den anderen Eltern stehen und mich erneut demüti­gen zu sehen. In der Situa­ti­on selbst war es dann aber so, dass ich bei allen Zuschau­ern diesen Blick auf mich wahrnahm. Es überkam mich ein hefti­ges Gefühls­ge­misch aus Scham und Angst. Ich ließ mir davon nichts anmer­ken (das hatte ich wie gesagt leider viel zu gut gelernt), schloss mich sofort danach dann aber weinend und völlig fertig auf der Toilet­te ein. Das tiefe Gefühl der Wertlo­sig­keit werde ich nie verges­sen. Es hat mir diesen Tag zerstört, der doch zu den schöns­ten im Leben zählen sollte.

Es war eine ähnli­che Situa­ti­on wie damals in der Grund­schu­le, nur noch viel mächti­ger. Ich fühlte mich bei dieser Art von „Auffal­len“ aufgrund der Erfah­run­gen von klein auf schon reflex­ar­tig gedemü­tigt, auch wenn meine Mutter gar nicht anwesend war. So tief hatten mich das alles geprägt. 

Heute weiß ich: die Kindheit mit meiner Mutter hat mich trauma­ti­siert. Denn ich war ihrer verzerr­ten Selbst- und Fremd­wahr­neh­mung und ihrem ver-rückten Verhal­ten allein ausge­setzt und bekam keine Hilfe von außen. Ich habe von ihr gelernt, dass so die Welt funktioniert. 

Heute weiß ich, dass Kinder grund­sätz­lich ihre Eltern lieben. Sie wollen ihnen um jeden Preis gefal­len bzw. wissen instink­tiv, welches Verhal­ten von ihnen gewünscht wird. In meinem Fall hieß das „nach außen angepasst sein und alle Leben­dig­keit unter­drü­cken“, denn diese Leben­dig­keit, alles was mich ausmacht, war falsch und gefähr­lich für meine Mutter. Also wieder „nur nicht auffallen“.

All das macht keinen Sinn, oder? Aber für meine Mutter und damit auch für mich war es todernst. 

Einige der Folgen werden wohl nie ganz wegge­hen. Ich kann nur sehr schlecht auf andere Menschen zugehen bzw. bin ich im Kontakt zu Menschen grund­sätz­lich verängs­tigt und gestresst. Ich nehme mich selbst kaum wahr und suche immer danach, was die anderen von mir erwar­ten. Unbewusst bin ich noch immer überzeugt davon, bei allen anderen unerwünscht zu sein. Das ist ein sehr übermäch­ti­ges Gefühl, gegen dass ich immer wieder neu ankämp­fen muss. Und unter dem ich sehr leide, denn es macht mir ein authen­ti­sches In-Bezie­hung-Treten allzu­oft unmög­lich. Ich versu­che Kontak­te oft zu vermei­den. Aber gerade der Austausch mit anderen macht das Leben ja aus und überhaupt erst lebens­wert. Im oberfläch­li­chen Kontakt komme ich zwar ganz gut zurecht. Das heißt, wenn es klare Regeln dafür gibt, wie man sich verhält (ich arbei­te in meinem Job als Sekre­tä­rin tatsäch­lich sehr gut nach den Regeln der anderen). Sobald der Umgang aber locke­rer (Small Talk) und persön­li­cher (enge Bezie­hun­gen) wird, bekom­me ich große Schwie­rig­kei­ten. Ich leide dabei sowohl darun­ter, reflex­mä­ßig von anderen Menschen wieder so eine Behand­lung wie die von meiner Mutter zu erwar­ten (= Trauma), als auch darun­ter, nicht wirklich erklä­ren zu können was da in mir passiert, da es eben so wenig Sinn macht und aus der ver-rückten Welt meiner psychisch kranken Mutter stammt. 

Ansons­ten fühle ich mich allge­mein in der Welt nicht sicher und immer ein bißchen fremd.

Das Gute ist, dass mir das alles sehr bewusst ist. Und so bin ich bisher trotz­dem gut im Leben zurecht­ge­kom­men. Ich habe einen guten Job, bin glück­lich verhei­ra­tet und habe wenige, aber liebe Freun­de. Und in letzter Zeit kann ich auch viel besser mit den Resten meiner Vergan­gen­heit leben. Ich akzep­tie­re mich so wie ich bin und gebe gerade inner­halb der Thera­pie meiner Mutter all die Proble­me zurück, die sie auf mir abgela­den hat. Und das funktio­niert! Ich bin für die Zukunft zuver­sicht­lich. Denn ich habe es überlebt und fühle mich dadurch in mancher­lei Hinsicht auch stärker.

Das Erleb­te hier und in anderer Form nieder­ge­schrie­ben und mit meiner Thera­peu­tin, meinem tollen Mann und in der Selbst­hil­fe­grup­pe bespro­chen zu haben, die Gabrie­le Apel im Rahmen von AURYN für erwach­se­ne Kinder psychisch kranker Eltern anbie­tet, hat mir sehr gehol­fen, mich endlich Stück für Stück aus der Sprach­lo­sig­keit zu befrei­en und dem ganzen seinen Platz zuzuwei­sen (nämlich in der Vergan­gen­heit und bei meiner Mutter, nicht bei mir). Ich bin seit über 4 Jahren erfolg­reich in Thera­pie und habe zum Glück gute Strate­gien entwi­ckelt, um damit umzuge­hen. Offene Kommu­ni­ka­ti­on und Akzep­tanz dessen, wie mich meine trauma­ti­sche Kindheit noch heute prägt, ist dabei ganz wichtig. Und möglichst viel Wissen über psychi­sche Erkran­kun­gen und was sie mit den Menschen machen.

Vielleicht ist es zum Schluss noch wichtig darauf einzu­ge­hen, was mir sonst noch gehol­fen hat, diese Kindheit zu überle­ben. Da war zum einen das Inter­net, wo ich Antwor­ten auf viele Fragen fand und auf angst­freie Weise Kontak­te leben konnte. Diese waren zwar anonym und eben nur virtu­ell, aber das war für mich besser als ganz allein zu sein. Viel Kraft habe ich außer­dem aus Musik geschöpft. Mit ihr hatte ich etwas, worin ich vollkom­men aufge­hen konnte. Sie gab mir zumin­dest inner­lich eine Stimme und ich fand in ihr Inspi­ra­ti­on, Freiheit und Kreati­vi­tät, aber auch Struk­tur und Harmo­nie. Alles Dinge, die mir zuhau­se komplett gefehlt haben. 

Und auch die Arbeit für AURYN hat mir gehol­fen einen Platz in der Gesell­schaft zu finden. Ich kann dazu beitra­gen, dass es anderen Kindern besser ergeht als mir. Und so schwer ist das auch nicht — bei mir hätte es schon gereicht, wenn mir jemand erklärt, dass meine Mutter krank ist und nicht ich falsch.

Anne Meister

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